Nolite timere eos, qui corpus occidunt, animam autem occidere non possunt

"Fürchtet nicht, die euch töten wollen dem Leibe nach", denn Geist tötet nicht Geist (Matth. 10,28). Geist gibt dem Geiste Leben. Die euch töten wollen, das ist Blut und Fleisch. Was (aber) Fleisch und Blut ist, das stirbt miteinander. Das Edelste, was am Menschen ist, das ist das Blut, wenn es recht will; wiederum das Ärgste, was am Menschen ist, das ist das Blut, wenn es übel will. Siegt das Blut dem Fleisch ob, so ist der Mensch demütig, geduldig und keusch und hat alle Tugend an sich. Obsiegt das Fleisch hingegen dem Blute, so wird der Mensch hoffärtig, zornig und unkeusch und hat alle Untugend an sich. Hier ist Sankt Johannes gelobt. Ich kann ihn nicht mehr loben, daß Gott ihn nicht noch mehr gelobt hätte.
Nun gebt acht! Ich will nun etwas sagen, was ich noch nie gesagt habe. Als Gott Himmel, Erde und alle Kreaturen erschuf, da wirkte Gott nicht; er hatte nichts zu wirken, auch war keinerlei Werk in ihm. Da sprach Gott: "Wir wollen (uns) ein Ebenbild machen" (I Mos. 1, 7). Schaffen ist ein leichtes Ding; das tut man, wann und wie man will. Was ich aber mache, das mache ich selbst und mit mir selbst und in mir selbst und drücke mein Bild völlig da hinein. "Wir wollen (uns) ein Ebenbild machen": "nicht du, Vater, noch du, Sohn, noch du, Heiliger Geist, sondern: wir, im Rate der Heiligen Dreifaltigkeit, wir wollen uns ein Ebenbild machen!" Als Gott den Menschen machte, da wirkte er in der Seele sein (ihm) gleiches Werk, sein wirkendes Werk und sein immerwährendes Werk. Das Werk war so groß, daß es nichts anderes war als die Seele, und die Seele (wiederum) war nichts anderes als das Werk Gottes. Gottes Natur, sein Sein und seine Gottheit hängen daran, daß er in der Seele wirken muß. Gesegnet, gesegnet sei Gott! Wenn Gott in der Seele wirkt, dann liebt er sein Werk. Wo nun die Seele ist, in der Gott sein Werk wirkt, da ist das Werk so groß, daß dieses Werk nichts anderes ist als die Liebe; die Liebe hinwiederum ist nichts anderes als Gott. Gott liebt sich selbst und seine Natur, sein Sein und seine Gottheit. In der Liebe (aber), in der Gott sich (selbst) liebt, darin liebt er (auch) alle Kreaturen - nicht als Kreaturen, sondern die Kreaturen als Gott. In der Liebe, in der Gott sich (selbst) liebt, darin liebt er alle Dinge.
Nun will ich (noch) etwas sagen, was ich (noch) nie gesagt habe. Gott schmeckt sich selbst. In dem Schmecken, in dem Gott sich schmeckt, darin schmeckt er alle Kreaturen. Mit dem Schmecken, mit dem Gott sich schmeckt, damit schmeckt er alle Kreaturen - nicht als Kreaturen, sondern die Kreaturen als Gott. In dem Schmecken, in dem Gott sich schmeckt, in dem schmeckt er alle Dinge.
Nun gebt acht! Alle Kreaturen richten ihren Lauf auf ihre höchste Vollkommenheit. Nun bitte ich euch: vernehmt bei der ewigen Wahrheit und bei der immerwährenden Wahrheit und bei meiner Seele! Wieder will ich sagen, was ich (noch) nie gesagt habe: Gott und Gottheit sind so weit voneinander verschieden wie Himmel und Erde. Ich sage mehr noch: Der innere und der äußere Mensch sind so weit voneinander verschieden wie Himmel und Erde. Gott aber ist's um viele tausend Meilen mehr: Gott wird und entwird.
Nun komme ich wieder zurück auf mein Wort: Gott schmeckt sich selbst in allen Dingen. Die Sonne wirft ihren lichten Schein auf alle Kreaturen aus, und worauf die Sonne ihren Schein wirft, das (= Nominativ) zieht sie (= Akkusativ: die Sonne) in sich und sie verliert doch (darum) nichts von ihrer Leuchtkraft.
Alle Kreaturen entäußern sich ihres Lebens um ihres Seins willen. Alle Kreaturen tragen sich in meine Vernunft, auf daß sie geistig in mir sind. Ich allein bereite alle Kreaturen wieder zu Gott. Schaut, was ihr alle tut1!
Nun komme ich wieder zurück auf meinen "inneren und äußeren Menschen". Ich schaue die Lilien auf dem Felde und ihren lichten Glanz und ihre Farbe und alle ihre Blätter. Ihren Duft aber sehe ich nicht. Warum? Weil der Duft in mir ist. Hinwiederum: was ich spreche, das ist in mir, und ich spreche es aus mir heraus. Alle Kreaturen schmecken als Kreaturen (nur) meinem äußeren Menschen, wie Wein und Brot und Fleisch. Meinem inneren Menschen aber schmeckt nichts als Kreatur, sondern als Gabe Gottes. Mein innerster Mensch aber schmeckt sie (auch) nicht als Gaben Gottes, sondern als ewig.
Ich nehme ein Becken mit Wasser und lege einen Spiegel hinein und setze es unter den Sonnenball; dann wirft die Sonne ihren lichten Glanz aus der Scheibe und aus dem Grunde der Sonne aus und vergeht darum doch nicht. Das Rückstrahlen des Spiegels in der Sonne ist in der Sonne (selbst) Sonne, und doch ist er (= der Spiegel) das, was er ist. So auch ist es mit Gott. Gott ist in der Seele mit seiner Natur, mit seinem Sein und mit seiner Gottheit, und doch ist er nicht die Seele. Das Rückstrahlen der Seele, das ist in Gott Gott, und doch ist sie (= die Seele) das, was sie ist.
Gott wird ("Gott"), wo alle Kreaturen Gott aussprechen: da wird "Gott"2. Als ich (noch) im Grunde, im Boden, im Strom und Quell der Gottheit stand, da fragte mich niemand, wohin ich wollte oder was ich täte: da war niemand, der mich gefragt hätte. Als ich (aber) ausfloß, da sprachen alle Kreaturen: "Gott"! Fragte man mich: "Bruder Eckhart, wann gingt Ihr aus dem Hause?", dann bin ich drin gewesen. So also reden alle Kreaturen von "Gott". Und warum reden sie nicht von der Gottheit? Alles das, was in der Gottheit ist, das ist Eins, und davon kann man nicht reden. Gott wirkt, die Gottheit wirkt nicht, sie hat auch nichts zu wirken, in ihr ist kein Werk; sie hat niemals nach einem Werke ausgelugt. Gott und Gottheit sind unterschieden durch Wirken und Nichtwirken3. Wenn ich zurückkomme in "Gott" und (dann) dort (d. h. bei "Gott") nicht stehen bleibe, so ist mein Durchbrechen viel edler als mein Ausfluß. Ich allein bringe alle Kreaturen aus ihrem geistigen Sein in meine Vernunft, auf daß sie in mir eins sind4. Wenn ich in den Grund, in den Boden, in den Strom und in die Quelle der Gottheit komme, so fragt mich niemand, woher ich komme oder wo ich gewesen sei5. Dort hat mich niemand vermißt, dort entwird "Gott"6.
Wer diese Predigt verstanden hat, dem vergönne ich sie wohl. Wäre hier niemand gewesen, ich hätte sie diesem Opferstocke predigen müssen. Es gibt manche arme Leute, die kehren wieder heim und sagen: "Ich will an einem Ort sitzen und mein Brot verzehren und Gott dienen!" Ich (aber) sage bei der ewigen Wahrheit, diese Leute müssen verirrt bleiben und können niemals erlangen noch erringen, was die anderen erlangen, die Gott nachfolgen in Armut und in Fremde. Amen.


Aus: Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate
Herausgegeben und übersetzt von Josef Quint
© 1955/7. Auflage 1995 Carl Hanser Verlag, München-Wien
Autorisierte Wiedergabe










1 Maharaj (Nr. 33): In Wirklichkeit ist alles mein, was existiert. Jede Form, die in mein Bewußtseins eintritt, gehört zu mir.

2 Maharaj (Nr. 73): Wenn du sagst: "Ich bin", kommt das ganze Universum zugleich mit seinem Schöpfer ans Licht.
Maharaj (Nr. 19): Wenn du die Welt siehst, siehst du Gott. Ohne die Welt, ist kein Gott zu sehen. Jenseits der Welt Gott zu sehen, ist Gott zu sein.
Maharaj (Nr. 56): Wo das Universum ist, ist natürlich auch sein Gegenstück, und das "Gott" ist.

3 Maharaj (Nr. 24): Gott ist der Alles-Wirkende, der Weise ist der Nichts-Wirkende. Gott sagt nicht: "Ich mache alles", weil die Dinge Ihm natürlich geschehen. Für den Weise wird alles durch Gott gemacht.

4 Maharaj (Nr. 48): Alles Sein wie alles Wissen ist im Zusammenhang mit dir. Ein Ding ist, weil du es entweder in deiner Erfahrung oder in deinem Sein kennst.
Maharaj (Nr. 55): Jeder stellt sich die "Anderen" vor, und sucht eine Verbindung. Aber die Verbindung ist der Suchende.

5 Maharaj (Nr. 74): "Kommen", "gehen": noch immer Worte. Ich bin. Woher komme ich? Wohin gehe?

6 Maharaj (Nr. 24): Dort gibt es reines Nichts. Dort ist mein Zuhause, die Worte und die Gedanken erreichen es nicht.


Aus: Nisargadatta Maharaj, I am That
The Acorn Press, Durham, North Carolina
Eigene Übersetzung


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